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AutorenbildGerold Schlegel

Wechselbad der Gefühle

…gepaart mit Erinnerungen


Morgens um 7:30 Uhr ist die Welt noch in Ordnung. Im Stockfinsteren stapfe ich zur Toilette. Roy, der Schäferhund, begrüsst mich. Er springt immer wieder an mir hoch. Langsam kapiert er, dass er von mir viel mehr Aufmerksamkeit bekommt, wenn er vor mir sitzt. Und die holt er sich. Er lehnt sich an mich und giert nach Streicheleinheiten. Tagsüber ist er an der Kette und nachts schaut er auf dem Grundstück nach dem Rechten. Wenn Roy tagsüber an der Kette ist, traue ich mich nur mit Futter zu ihm. Für Roy spielt im Kopf sich ab: Da kommt einer mein Futter klauen. Das mein Empfinden. Der Umgang mit Haustieren in Georgien ist für mich sehr gewöhnungsbedürftig. Egal ob es Futter, den Umgang oder die Lautstärke betrifft.

Das erinnert mich an die Schweiz in meinen Jugendjahren. Damals wurden Haustiere wenig verwöhnt und der Umgang war eher roh. Herumspringende kopflose Hühner waren wiederkehrende Erlebnisse und Tatsache, wenn es ans Schlachten ging. Oder die Hunde, die im Schopf angebunden warteten, bis sie ihren Weg als Fleischlieferant antraten. Zerlegt wurden die Stücke geräuchert oder eingelegt zu Pfeffer verarbeitet – ähnlich Wildpfeffer. Heute ist das ein Tabu. Darüber spricht und schreibt man nicht. Doch hier in Georgien kommen alle diese Erinnerungen und Erlebnisse wieder hoch. Ich weiss, solche Erfahrungen behält man besser für sich und schweigt. Doch es war zu der damaligen Zeit normal und üblich. Heute ist so etwas kaum mehr vorstellbar. Das kürzliche Erlebnis mit dem Hund, der von einem älteren Herrn – der selbst kaum laufen konnte – mit letzter Kraft mehr tot als lebendig in einen Container geschmissen wurde, verfolgt mich genauso. Und so verwundern und ängstigen die Berichte aus der Schweiz zum Pandemiethema und deren Umgang. Ängstigen von wegen Reisen und Umgang mit Menschen.


Was mit der Wahl unseres künftigen Wohnortes so hoffnungsfroh begann, wird immer mehr zu einer Odyssee. Laufend türmen sich neue Probleme und Entwicklungen auf, die wir wenig beeinflussen können. Doch eines nach dem Anderen. Die Container stehen nach wie vor in Rubigen (Sind nach erscheinen des Blogs bereits auf dem Weg. Letzter Stand C Nr. 1 ist an Grenze Polen/Ukraine und Nr. 2 bereits in Minsk). Ohne Adresse keine Lieferung. Obwohl wir einen offiziellen Wohnsitz gemietet haben, kann uns niemand die genaue Adresse aufschreiben. Das Dorf Marani hat keine Strassennamen und das Suchen von Hausnummern ist eine vergebliche Mühe. Regina hat kurzerhand eine eigene Adresse entwickelt. Wir wohnen neben dem Fussballplatz. Der wird als «Stadion» bezeichnet. Der Wegbeschrieb des Grundstückbesitzers war: Nach dem Stadion links das erste Haus. Saza, der fünf Jahre lang auf das Grundstück aufgepasst hat, meinte: Name, Marani 0206, Munizipale Abasha, Georgien – reicht völlig aus. Regina hat kurzerhand die Stadionstrasse – Stadion Street – erfunden und ergänzt mit «Dom Nr 2» (Haus Nr. 2), 0206 Marani, Abasha Munizipality, Georgien. Also alles in bester Ordnung, dachten wir. Am Abend machten wir Witze mit Garik und Emma von wegen Strasse und Google. Keine 10 Minuten später las ich zufällig eine E-Mail des Transportunternehmens. Sie können uns mit Google nicht finden, die Adresse nicht stimmt. Ohne korrekte Adresse kein Transport. Ich kugele mich vor Lachen und ernte erstaunte Blicke. Was ist jetzt los? Als ich das Ganze auflöste, konnten wir uns kaum mehr erholen, so grotesk war der Moment.


Nebenbei: Wer in sein Navigationsgerät unsere frühere Adresse in Rubigen eingibt, wird weder Container noch Wohnadresse finden. Dasselbe Chaos mit der Adresse und deren Schreibweise. Wir hatten oft Schwierigkeiten mit dem Handelsregister, amtlichen Dokumenten und der Postanschrift. Es gibt mindestens fünf Schreibweisen: Hunzike, Hunzige, Hunzigen, Hunziken, Hunzigengut... Menschen und Pakete waren regelmässig am falschen Ort. Einzig der Hinweis «neben dem Patrizierhaus» oder «Mühle Hunziken» half.


Wir haben die «Regina-Adresse» beibehalten und den Standort übermittelt. Trotzdem wurde der Transport bisher dreimal verschoben. Wir haben unser Hab und Gut in zwei grosse Container verpackt. Regina hat die Container in Sektoren aufgeteilt und fein säuberlich jede Kiste mit Inhalt fotografiert, Material beschrieben, gewogen und auf der Warenliste eingetragen. Wir wollten die Container auf dem Landweg nach Georgien schicken. Es ist die populärste Route, um vom Osten nach Westen oder umgekehrt Güter zu transportieren. Aktuell mit den Flüchtlingen an den Grenzen von Polen, der Ukraine, Weissrussland und dem Verhalten Russlands ist jedoch die Dauer des Transports kaum absehbar. Üblich wären etwa 8 bis 10 Tage. Aktuell kann es auch drei Wochen dauern. Jeder Tag, den der Transport länger braucht, wird uns selbstverständlich verrechnet. Völlig unklar ist deshalb, was der Transport effektiv kosten wird. Heute und nachträglich betrachtet würde ich keinen Transport mehr machen. Doch es sind wirklich spezielle Verhältnisse, die zu den Preissteigerungen der letzten Monate geführt haben. Angeheizt durch die fehlenden Container am Ort des Bedarfes über die geringen Kapazitäten der Häfen infolge Ausfalls von Personal bis hin zu Schliessungen der Zollabwicklungsstellen in den einzelnen Ländern...


Zudem hat Georgien die Gesetzgebung zur Einfuhr von Umzugsgut kurz vor unserer Ankunft geändert. Vieles, was bisher gültig war, geht jetzt nicht mehr. Die Folge sind höhere Kosten. Die Steuer beträgt 18 bis 25 % auf den Warenwert. Umzugsgut ist nur noch steuerfrei mit einem georgischen Pass oder wenn man als Investor mit entsprechenden Bedingungen (USD 300‘000, 6 Monate Aufenthalt als Investor, drei georgische Empfehlungen von Unternehmern…) auftritt. Belege reichen nicht mehr und die Mittel müssen in Georgien sein. Schrittweise die erforderliche Summe nach Georgien zu bringen – wie bisher – ist neu unmöglich. Beim Umzugsgut ist die Frage, wie der Warenwert errechnet wird, zentral. Das Beispiel des ehemaligen Farmers aus Südafrika, der sich in Georgien eine neue Zukunft aufbaut, ist ein Musterbeispiel von Kreativität. Bei seinen importierten und gebrauchten Traktoren aus Südafrika wird der Warenwert zu europäischen Preisen berechnet. Halleluja. Wir werden es herausfinden und jubeln oder uns ärgern. Das Gesetz wurde angepasst aufgrund des Missbrauchs durch Wenige.


Einige reizen das System aus und schon reagiert die Politik. Wer erinnert sich noch an den ehemaligen CEO von ABB, der sich seinen Ruf beim Abgang mit einem Pensionskasseneinkauf innert kürzester Zeit zerstörte? Die Reaktion kam sofort: Beschränkungen der Einkäufe und Bezüge beim Pensionskapital. Doch auch das konnte der ehemalige CEO von Novartis auf seine Art nutzen. Berater und geschickte Strukturen beim Einkommen und Vermögen erledigten den Rest.


Die neuen Gesetze schaffen immer wieder neue Ungleichgewichte und Arbeitsvorrat für Menschen in der Beratungsindustrie. Wir kennen das in der Schweiz bei der Pensionskasse und deren Bedingungen zu Einkauf und Bezug. Oder bei der Besteuerung der Renten von AHV, Pensionskasse und privater Vorsorge. Auch in Georgien schauen die Politiker nach Europa, der Schweiz und nach Amerika. Was da Gesetz ist, wird übernommen oder kopiert. Hier in Georgien ist die Flut von Gesetzen noch am Anfang. Doch was sich ändert, ähnelt stark dem, was im Westen passiert.

Für mich hat sich die Meinung zu Georgien nicht verändert, sondern eher verstärkt. Die Schweiz oder auch Europa werden noch mehr Gesetze machen und sich selbst behindern. Die wirtschaftliche Lage und die Sehnsucht der Menschen in armen Ländern, am Reichtum der westlichen Konsumwelt teilzuhaben, erledigen den Rest. Gutausgebildete Georgier gehen ins Ausland, sie bleiben nicht in Georgien. Trotzdem traue ich wirtschaftlich Georgien viel mehr zu als EU/CH. Die Schnittstelle der Seidenstrasse, die Fruchtbarkeit der Böden, der Reichtum an Natur und Kultur von Region zu Region sind nur einige Aspekt der Vielseitigkeit und Chancen. Die Sprache und die Unkenntnis gegenüber Georgien werden den Reisestrom in Grenzen halten. Das Verkennen der wirklichen Sachverhalte in Georgien wird die Schweizer eher nach Portugal treiben, dem neuen Anziehungspunkt vieler Pensionäre. Viel mehr können sie kaum daneben liegen. Für mich war Portugal vor 10 Jahren eine Alternative, doch nie im Leben heute. Mir soll das recht sein. Die Grundstückspreise – sofern georgischer Preis – sind niedrig und ohne Bankkredit für jeden machbar. Einzig der Standard der Bauweise und des Komforts, sowie je nach Lage die Infrastruktur für Abwasser, Kehricht und Strassen sind gewöhnungsbedürftig. Wer mit dem Einfachen und Praktischen zurechtkommt, ist bestens aufgehoben. Entschleunigung ist garantiert. Wir kompensieren viel mit unserer Kreativität.

Um den Unterschied der Preise für Georgier und für Ausländer zu erfassen, hilft die Verrechnung der Taxikosten, des Essens in Restaurants oder auch für das Auffüllen einer Gasflasche. Beginnen wir bei den Taxikosten. Es gibt zwei Taxi-Apps, die eine heisst «Bolt» und die andere heisst «Maxim». Die Mehrheit der Fahrten ist für 3 bis 10 Lari zu haben. Reichweite ca. 6 bis 10 km, je nach Verkehrsdichte und Ortskenntnissen des Fahrers. Die meisten fahren mit Google Maps. Wir hatten kürzlich eine Episode, bei der ich mir wie im Formel-1-Rennwagen vorkam. Nein, besser mit Walter Röhrl am Steuer, dem mehrfachen Rally-Weltmeister. Wegen Stau nahm der über 70-jährige Taxifahrer die Abkürzung und wetzte um die Kurven, als ob es kein Morgen gäbe. Alles spritzte zur Seite, als ob die Passanten den Kerl kannten!

Egal was entgegenkam oder im Weg stand, «aus dem Weg, jetzt komme ich!», und so liess er auch seinen Motor heulen. Wobei er nur keinen zweiten Gang hatte und entsprechend fahren musste. Regina meinte trocken: «Gerold du fährst so langsam, das schätze ich sehr.» Vor uns ging nach und nach alles aus dem Weg, bis wir wieder auf der Hauptstrasse waren. Dann riss er einen Stopp und blockierte gleichzeitig die Einfahrt, an der ein Autofahrer verzweifelt versuchte, sich einzufädeln. Alles Hupen nützte nichts. Unser Rally-Meister musste mit uns zuerst klären, wo wir eigentlich hinwollten. Kein Witz. Er belehrte uns etwa 15 Minuten lang, wo was war und ignorierte das Hupen des blockierten Autofahrers mit grösster Ruhe. Dort, wo wir hinwollten, war für ihn da, wo er jetzt angehalten hatte. Er hatte keinen Plan, was unser Ziel war, obwohl er zuvor 20 Jahre in dieser Gegend gelebt hat. Wir wussten, dass das Ziel 3.5 km geradeaus auf der rechten Seite war. Der Mensch, der den Zoll erledigt, erwartete uns im Büro. Wir waren am Vortag dort. Der Taxifahrer kassierte die vereinbarten 10 Lari und damit für ihn das Geschäft erledigt. Regina und ich schauten uns an und konnten nicht fassen, was wir da soeben erlebt haben. Kneif mich! War das real? Eine andere Episode mit einem Taxi Fahrer der in Sibirien aufgewachsen ist, der sang mit Regina russische Kinderlieder. Er hat damit begonnen und Regina stimmte ein. Er hat rotz Wartezeit einen georgischen Preis verlangt. Wie schon öfters gesagt, Widersprüche noch und noch.


Bleiben wir noch beim Taxi. Wenn wir abends mit dem Taxi wieder zurück in unser Favoriten-Camping beim Justizgebäude wollten, war das öfters mühsam. Von 20 bis 30 Lari war alles dabei. Wenn wir via App einen Fahrer suchten, war die Anzeige wohl korrekt mit 3 bis 8 Lari, doch kein Taxifahrer wollte zu dem Preis wirklich fahren. Also muss eines von der Strasse her und schon beginnt es. Wir nerven uns sehr über die Arroganz und die Unverfrorenheit vieler georgischen Taxifahrer. Einen zu finden, der sich nicht bereichert, ist ein schwieriges Unterfangen. Als Schweizer oder Tourist ist man die Preise in Georgien schlicht nicht gewohnt. Sie sind viel günstiger. Und das geht weiter über den Einkauf auf dem Gemüsemarkt bis zu Fleisch und Fisch oder was immer eingekauft werden muss. In Georgien können wir die Gasflasche für das Heizen und das Kochen an Gastankstellen auffüllen, sofern sie die Adapter haben. Und das ist alle 60 bis 100 km möglich, sofern man sie findet. Die Adapter sind meistens von der Strasse her zu sehen, ein geübtes Auge vorausgesetzt. Eine Gemeinsamkeit haben solche Gasbetankungsstellen: eine Zufahrt voller Löcher und Gräben. Meistens befindet sich die Tankstelle von der Strasse zurückversetzt in zweiter Reihe.


Eine Füllung kostet normal 15 Lari für eine grosse Gasflasche. Wir haben von 30 bis 54 Lari schon alles bezahlt. Es geht so unglaublich schnell. Daher sprechen wir uns laufend ab, wenn wir etwas bezahlen. Der Partner könnte ja etwas festgestellt haben, das der Zahlende nicht mitkriegt. Seitdem wir das machen, erwischen sie uns nicht mehr mit übersetzten Preisen. Dazu kommt, dass Regina mehrheitlich ihr Russisch nutzt und sozusagen die Vorhut ist. Ich öffne meinen Mund nur, wenn ich eine Abweichung wahrnehme. Sobald ich als Erster mit Englisch loslege, haben wir den Salat. Die vielen Kontakte mit russischsprechenden Menschen hinterlassen Spuren. Ich verstehe immer mehr, obwohl das Reden nach wie vor schwierig ist.


Bei unserem schwarzen Kugelblitz mussten wir zwei Hinterreifen ersetzen und kamen dank einheimischer Unterstützung zu einem sagenhaften Preis – total 140 Lari inklusive Montage, was etwa 25 Franken entspricht. Das Leeren des Güllelochs kostete umgerechnet weniger als 20 Franken, und das, obwohl der Tankwagen fast 15 Minuten abgesaugt hat und eine Anfahrt hatte. Das gleiche Ergebnis beim Einkauf von Kies. Für 20 Quadratmeter Kiesbett haben wir – frei Haus geliefert – umgerechnet weniger als 100 Franken bezahlt. Im Gegensatz dazu dann wieder über CHF 20 für eine Kurzstrecke mit einem Offroad-Taxi in einem der zahlreichen Canyons Georgiens.


Wer jedoch laut wird oder sich wütend zeigt, wird sofort mit Preisnachlass belohnt. Oder es beginnen Geschichten von der Familie, der Gesundheit, finanziellen Engpässen, gierigen Arbeitgebern und weiss ich was alles. Diese Tränendrüsengeschichten sind bei engagierten Menschen für Soziales, Tiere, Natur, das Klima bestens platziert. Die Chancen, zu viel zu bezahlen, steigen ins Unermessliche.


Das bisher günstigstes Essen in einem Restaurant in Tiflis kostete für 3 Personen knappe 30 Lari. Dabei waren Vorspeisen, Hauptgänge, Wasser, Brot und ½ Liter Wein enthalten. Das Essen war superlecker und kostete umgerechnet nur knappe 10 Franken. Auf dem Lande, ausserhalb der populären Touristenorte, sind diese Preise Standard. Am gleichen Abend in einer Ausgehmeile von Tiflis haben wir 30 Lari für ein Glas Wein bezahlt. Gut, es war wirklich ein sensationeller Wein. Doch das Beispiel hilft, um die Verhältnisse klarzustellen. Dabei sind weder Regina noch mir eine «Geiz ist Geil»-Haltung wichtig. Dieses Verhalten aus der Schweiz lag uns immer fern und ist auch weiterhin kein Thema für uns. Wir bevorzugten in der Schweiz den Einkauf in der Dorfmetzgerei oder auf dem Markt. Grosse Markennamen sind uns ein Gräuel. So auch hier in Georgien. Bisher sind wir per Zufall in zwei europäischen Läden gewesen: Carrefour in Batumi und Tiflis. Die Preisunterschiede sind derart frappant, dass es sich lohnt, genauer hinzuschauen. Doch Achtung: so viel Unbrauchbares, das heisst, Schrott und Plastik gibt es zu kaufen. Die Qualität von Schweizer Besen ist hier die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Die Besen sind nur halb so gross, sprich hoch und nur in gebückter Haltung benutzbar. Doch wir wissen jetzt, wo wir uns umschauen müssen. Im Baumarkt für Handwerker «Bingo». Der Name klingt eher nach Lotto und Glücksspiel. Doch das neu eröffnete dreistöckige Handwerkerparadies in Tiflis war eine Sensation. Handwerker im Endspurt und wir stolperten im Haus herum, bis wir einsehen mussten: wir können nichts kaufen, obwohl uns alle freundlich den Weg zeigten. Wir waren nicht die Einzigen. Eröffnung ist am 1. Dezember.


Übrigens, der Black Friday hat uns erschreckt. Die Konsumtempel, die wir auf dem Weg von Tiflis nach Kutaissi passierten, waren übervoll. Freunde berichteten, dass sie nach 30 Minuten Warten an der Kasse das Geschäft ohne Einkäufe verliessen. Der Ausfahrtsstrasse entlang reihen sich viele dieser Konsumtempel und überall das gleiche Bild – überstellte Parkplätze und Chaos bis auf die Schnellstrasse. Erschreckend, wie Verhalten des Westens unbesehen übernommen wird. Der Rabatt lockt und verführt.


Dank unserer armenischen Freunde in Georgien wissen wir immer mehr über die Preiskultur und wie oder wo wir was erhalten. So kommen wir beim Einkauf an die besten Preis-Leistungsverhältnisse. Im Laden bezahlen wir für Sonnenblumenöl in Georgien 15 bis 20 Lari, beim empfohlenen Favoriten dagegen schlappe 7 Lari. Kein Vergleich und hinsichtlich Qualität eine kaum vorstellbare Aroma-Explosion. Wo kommt es her? Aus Kachetien. Das Netz unserer Lebensmittel-Lieferanten für die ultimativen Aromen wird von Monat zu Monat dichter. Unsere Kaki-Ernte im Garten könnten wir mit den besten Kartoffeln Georgiens tauschen. Tauschgeschäfte sind populär und hilfreich.


Der Weg zum optimalen Preis und zu bester Qualität ist gepflastert mit Fehlversuchen, Übertölpelung, Reinfällen und Frust. Wenn wir jedoch wieder einmal das Glück auf unserer Seite haben, erleben wir kaum vorstellbare Gefühle. Ogi würde sagen: Freude herrscht. Mir hilft das Denken des Kochs, der immer wieder ausprobiert und Neues wagt. Um Missverständnissen vorzubeugen: wir kaufen überall ein. Einzig moderne Läden oder westliche Namen meiden wir, wann immer möglich. Was wir da schon in Hinterhöfen und Holzverschlägen alles erlebten, füllt allein ein Buch. Ich will dann doch noch probieren, bevor ich kaufe! Das Konzert der Verkäuferin auszuhalten, wenn es mich nicht überzeugt, ist ein schwieriges Unterfangen. Die Gefühlswelt steht Kopf: «Das gehört sich nicht. Das macht man nicht. Du bist ein eingebildetes Arschloch.» Das alles sind die netteren Versionen, mit denen ich mich selbst verunsichere. Der Gestik, Mimik und Lautstärke des Gegenübers zu widerstehen ist eine einzige Herausforderung. Es kann auch schon mal sein, dass die Verkäuferin mich wegschickt.


Klar ist, wir lassen uns viel weniger blenden und machen immer weniger Fehlgriffe. Das stärkt das Selbstvertrauen und zeigt uns, dass wir auf gutem Wege sind. All die Missgeschicke, Pleiten und Pannen haben uns am Ende vorwärtsgebracht. Wir lernen auf natürliche Art und Weise. Was für uns schon selbstverständlich ist, ist für konsumwütige und statusgetriebene «Westler» ein Fremdwort. Je aufgeräumter und perfekter die Werkstatt, der Laden oder Betrieb, umso höher die Preise und geringer die Leistung. Das erinnert mich immer wieder an die Symbole der Finanzindustrie, mit denen Kompetenz vermittelt werden soll. Dabei weiss doch jedes Kind, dass die teure Infrastruktur über Kundenpreise finanziert wird. Doch offensichtlich ist eine Marke und die Übervorteilung wichtiger. Übervorteilung im Sinne von hohen Preisen und eine beschädigte Umwelt und benachteiligte Lieferanten und Kunden.

Die Finanzindustrie hat hier sogar den ehemaligen Präsidenten, der über der Stadt Tiflis in einem «Mega Hightech Architektur Designmonster» wohnt, erwischt. Er hat sich von einem Kundenberater einer Schweizer Grossbank über den Tisch ziehen lassen. Der Kundenberater wurde wegen Urkundenfälschung, Betrug verurteilt. Jetzt strengt der Ex-Präsident einen weiteren Prozess an, um einen Teil seiner Milliarde zurückzuerhalten. Wenig erstaunlich und überraschend für mich. Je besser ausgebildet der Kunde, umso wahrscheinlicher wird ein Betrug. Betrogene Ärzte, Zahnärzte und Chirurgen oder Unternehmer sind beredte Beispiele. Die vermeintlich fehlende Zeit, sich selbst um Finanzangelegenheiten zu kümmern, verstärkt diesen Sachverhalt. Mit unserem Produkt unserer Vorstellung von Wissensvermittlung wollen wir dem entgegenhalten. Das beginnt bei der Geldanlage, geht über Einkauf, gesunde Ernährung, Kochen mit längst vergessenen Methoden bis zu den aus der Mode gekommenen Baumaterialien. Dazu kommt die Lust, gebrauchten Dingen, die vermeintlich keinen Zweck mehr erfüllen, neuen Sinn und Aufgaben zu geben.


Auslöser eines Betruges ist bei den vermeintlichen Opfern oft die Gier. Dazu gesellt sich der Effekt «dazugehören» zu wollen. Empfehlungen sind weitere potentielle Klippen. Die heutige Vereinsamung von älteren Menschen ist ein anderes unsägliches Kapitel. Ich bin einfach nur froh, diesen Zwängen entronnen zu sein. Je mehr Regina und ich Menschen vermitteln, was wirkliches Glück und ein gutes Leben sein könnte, umso besser. Genau das ist unser Ziel. Wir haben übrigens bereits zwei Buchprojekte am Start. Regina über ihre Erlebnisse und Eindrücke der Reise und Georgiens. Ich wieder über Finanzen. Es kommen nützliche Strukturen von Einkommen und Vermögen zur Sprache.

Eine nützliche Einsicht aus der Praxis ist unser selbstbestimmter Campingplatz mitten im Zentrum von Tiflis. Das Justizgebäude, allgemein als Champignon (Mushroom) bezeichnet, ist der Ort, an dem alles erledigt werden kann, was rechtliche Konsequenzen hat. In der Halle hat es für jedes Anliegen Schalterinseln: Grundstücke, Aufenthaltsbewilligung, Firmengründung, Heirat, Geburt, Steuern etc. Ein genial-einfaches System. Dazu gehört eine WC-Anlage, die keinen Vergleich mit Toilettenanlagen in der Schweiz scheuen muss. Von 9:00 Uhr morgens bis 18:00 Uhr am Abend ist das Gebäude frei zugänglich. Neben dem hinteren Parkplatz befindet sich ein Park mit einer sauberen öffentlichen WC-Anlage. Einzig die Duschen fehlen. Wir können uns im Hâusi behelfen und waschen. Es ist eine WC-Anlage mit Dusche eingebaut. Theoretisch. Regina geht in ihrem Beitrag mehr ins Detail. Die Kampfspuren im Hâusi und die Ausfälle mehren sich. Wir (oder besser gesagt: ich) haben aber den Hâusi auch bis an und teilweise über die Grenzen hinaus strapaziert. Die Kassette muss alle Woche oder manchmal bereits nach 2 bis 3 Tagen geleert werden. Je nach Gebrauch. Ich benutze diesen Komfort äusserst selten. Mir ist mehr nach «Markieren» zu Mute und morgens nutze ich die Infrastruktur der Justiz. Dazu muss der Leser wissen: Parkplätze sind rare Güter im Zentrum von Tiflis. Regina und ich kriegten uns früher auf der Parkplatzsuche regelmässig in die Haare. Die Strassen sind teilweise so eng, das Hâusi nur mit eingeklappten Seitenspiegeln durchkommt. Regina trieb die Sorge um weitere Blessuren am Hâusi wiederkehrend in Rage. Dazu kommt mein Optimismus: wenn Autos da durchkommen, reicht es allemal für mich. Doch wenn es darum geht, in eine Seitenstrasse einzubiegen, wird die Länge zur Herausforderung. In Tiflis wird jede noch so kleine Lücke zum Parkieren genutzt. Daran vorbeizukommen ist das Problem desjenigen, der da vorbei will – Basta.


Zu Beginn haben wir 20 Lari pro Tag und Nacht auf der Vorderseite des Justizgebäudes bezahlt. Alles ohne Barrieren, tagsüber bedient von einem Security-Menschen. Jetzt haben wir gewechselt auf die Rückseite und den mit Barrieren abgeriegelten Parkplatz. Die Wärter der Zahlhäuschen kennen uns und wir legen gerne die zusätzlichen 5 Lari pro Tag aus und runden auch mal grosszügig auf den nächsten Zehner auf. Das steht in keiner App von Weltenbummlern.


Das macht Georgien für uns so attraktiv. Wer Ideen hat, kreativ ist und Chancen nutzt, ist im Vorteil. Es ist wie in der Schule oder beim Arbeiten: Wer fragt, wird eingeschränkt. Wer einfach mal macht, dem eröffnen sich unglaubliche, kaum vorstellbare Möglichkeiten. Doch das geht nur, wenn sich der Einzelne traut. Ich fühle mich hier lebendiger und freier. Gewiss, die Probleme sind vielfältiger und meine Sprachschwierigkeiten nicht ganz ohne. Früher wurde mir vorgehalten, ich würde keine Planung machen. Dabei ist das Gegenteil der Fall. Nur plane ich wenig detailliert, das heisst, ich plane in groben Schritten. Ich verwende möglichst wenig Zeit dazu. Das Pareto-Prinzip ist mein Leitstern.


Dieser Grundsatz besagt, mit 20 % Aufwand 80 % der Lösung zu erzeugen. Für die restlichen 20 % benötige ich hingegen 80 % der Energie. Wenn ich plane, reichen 1/5 Aufwand um 4/5 der Risiken zu erkennen. Das ist einer meiner wichtigsten Schlüssel. Ich komme so viel schneller in Bewegung und kann laufend justieren. Einmal in Bewegung, ist Lenken und Vorwärtskommen einfach. Projekte und Abweichungen sind Zwillinge. Das Eine geht nicht ohne das Andere. Der Grundstückskauf und unser Entscheid, nach Georgien zu gehen, sind so entstanden. Das zweite Schlüsselelement sind die oft vernachlässigten Ausstiegskosten. Alle Welt beachtet bis ins Detail Einstiegskosten und ignoriert den Ausstieg. Beispiele wären Kauf von Luxus (Wiederverkauf), Ehe und Partnerschaften, Hauskauf, Kredite, Verträge und so weiter. Mir haben die beiden Elemente «Pareto-Prinzip» und «Ausstiegskosten beachten» schon sehr viel Geld gespart und viel Geld gekostet, wenn ich sie ausser Acht liess. Auf unserer Reise konnten wir bisher viel einfacher auf Begegnungen und Momente reagieren. Das war schon mehrfach Thema, ich wiederhole es aber, um die Wichtigkeit erkennen zu können.


Seit wir unterwegs sind, stärken wir uns gegenseitig viel mehr und heben die positiven Seiten des Einzelnen mehr heraus, als das früher der Fall war. Frei nach dem Motto: Alles hat zwei Seiten: Positiv – Negativ. Klar, das ist eine bekannte Binsenwahrheit, doch im Alltag ist das Negative viel schneller zur Hand und ausgesprochen. Dadurch, dass wir uns selbst aus dem Alltag und dem Bequemen warfen, anerkennen wir heute unsere Stärken und Möglichkeiten. Wir trauen uns viel mehr zu. Sogar das Renovieren eines Hauses. Die Gestaltung des Grundstückes mit einem See, das Bauen von Erdhäusern und Lehmbauten wird so für uns greif- und machbar. Die dabei zu Tage tretenden Hindernisse und Schwierigkeiten werden wir laufend im Blog publizieren. Für uns ist das Schreiben eine Bestärkung und nimmt uns in die Pflicht, dran zu bleiben. Gleichzeitig stärken uns, die Rückmeldungen von euch Lesern. Danke! Und auf eine nächste Runde auf dem Karussell des Lebens, das uns der aktuelle Lebensabschnitt in Georgien bietet.


Übrigens wir haben in unmittelbarer Umgebung eine Perle, die in keinem Touristenführer aufgeführt ist. Sie stammt aus der Zeit der Sowjetunion. Es ist das frühere Kulturtheater mit angeschlossenem botanischem Garten. Die beiden Laternensäulen haben es Regina und mir angetan. Wir hätten sie gerne im Garten. Die knorrigen Bäume sind über 100 Jahre alt. Gut vergleichbar mit den Bauruinen von Tskaltubo. (Tskaltubo ist ein ehemaliges Kur- und Bäderzentrum für die obere Schicht der Russen.) Regina hat bei der letzten Besichtigung in einem der tapezierten Räume gleich 1 bis 2 Meter Tapete mitgenommen. David, der uns damals begleitete, war sehr erstaunt darüber. Kein Wunder. Er kennt die Kreativität von Regina, aus Altem Neues zu machen, höchstens im Ansatz. Die Tapete hat mehr gesehen als viele Touristen. Vorgestern meinte Regina trocken: Wenn wir schon in der Nähe von Tskaltubo sind, gehe ich gerne nochmal hin und hole mehr davon.

Momentan ist viel Aufregung. Die Container gehen heute auf grosse Reise. Der erste Lastwagen kam schon gestern Abend in Rubigen an. Der Fahrer spricht internationale Sprachen so, wie der Alpöhi im Heidi-Film. Ist doch ganz klar, die Welt spricht Russisch. An dem Tag wurden sicher 16 Emails hin und her geschrieben mit der Administration der Transportfirma: Wie geht das jetzt an der Grenze für den Import mit den Fahrzeugen? Es ist zum aus der Haut fahren. Immer wieder tauchen neue Hindernisse und Hürden auf. Der letzte Stand: für alle Fahrzeuge – Skoda, Zeus (Seitenwagen), Anhänger für Zeus und den Rapid JG 1959 – brauchen wir eine Originalunterschrift auf einer Besitzer-Bestätigung und die Fahrer müssen mindestens eine Kopie dessen dabeihaben. Die Fahrausweise sind in der Schweiz abgemeldet, das heisst «ungültig» und lauten auf die Vorbesitzer. Vorbesitzer sind die beiden Firmen Gerold Schlegel AG und 9A Atelier + Büro Schlegel KLG. Das hat gar nichts mit Regina oder mir zu tun. Die Fahrzeuge könnten gestohlen sein. Klar, die werden laufend gestohlen, zusammen mit den aktuell gültigen Fahrzeugausweisen. Die Pedanterie erinnert mich stark an das Machtgehabe von Beamten in Afrika, Asien und Lateinamerika.

Auch eine andere Klippe ist aufgetaucht: Die Kaufverträge für unser Grundstück sind ungültig. Gottseidank haben wir das hier schon besprochene Ausstiegsszenario berücksichtigt. Alle Punkte, die jetzt Schwierigkeiten machen, wurden bei der Beurkundung des Grundstückes angesprochen und bezeichnet. Soviel zur Verlässlichkeit von Notaren. Egal. Wir können die Sache gelassen angehen, in 10 Tagen wissen wir mehr. Falls es doch nicht klappt, haben wir CHF 250 Unkosten für den Kies des Container-Fundaments und die Notariatskosten von CHF 50 ausgegeben. Die Miete von 450 Franken für drei Monate rechnen wir nicht dazu. Also kein Unglück. Das Vorgehen ist einfach: Das Land muss einen neuen Status kriegen, etwa für Tourismusprojekte. Ein formaler Vorgang, den ich bereits aus meinem Walnussprojekt (15 Hektaren) in Georgien kenne. Ausländer dürfen in Georgien kein landwirtschaftliches Land kaufen und doch geht es. Gewusst wie...


Alle diese Vorgänge erinnern mich an die Schweiz und meine früheren Tätigkeiten. Ich konnte zusammen mit einem Steuerexperten mit der Steuerbehörde auch Unmögliches vereinbaren. Egal ob Mehrwertsteuer, Einkommenssteuer oder Vermögenssteuer betroffen ist. Voraussetzung sind Geduld, hohe Beraterhonorare, Hartnäckigkeit und eine unverstandene Lücke. Die Verhandlungen gestalteten sich wie auf dem orientalischen Basar: Ich gebe dir etwas, dafür bekomme ich von dir das Zugeständnis. Je mehr das Vis-a-Vis Experte sein wollte, umso besser waren die Karten. Die Formulierung und die Darstellung möglichst kompliziert zu formulieren, vereinfacht es zusätzlich. Also alles wie gehabt. Sozusagen nichts Neues im Osten.


So fertig. Wir fahren mit dem Taxi nach Kutaissi und besorgen uns bessere W-LAN, Axt und Leiter. Dazu einige Einkäufe. Übrigens: für die Strecke Marani – Kutaissi (45 km) bezahlen wir knapp 10 Franken und so können wir Hâusi auf dem morastigen Gelände stehenlassen. Einmal eine 4-stündige Kraftübung, um Hâusi zu bergen, inklusive Unterstützung eines Belarus («Russen-Traktor») reicht. Es hat seit 3 Tagen viel Wasser gegeben. Petrus hat die Schleusen geöffnet. Ab morgen ist es wieder sonnig mit angenehmen Temperaturen von 24 – 28 Grad tagsüber. Bestes Wetter zum Holzhacken für kältere Tage und um die Zufahrt zu trocknen. Also keine Hast, stattdessen vielmehr Alternativen suchen für andere Tätigkeiten.



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