Jemand hat den Eimer mit der Farbe umgekippt. Es ist einfach nur grün und grün. Grüner könnte es nicht sein bei uns in Marani.
Wie auf Befehl erwachten die Bäume und Pflanzen auf dem gesamten Grundstück. Hüllen sich in breite Blättermäntel, setzen eine Unmenge an Früchten an. Die Sonne wechselt sich mit kurzen Regengüssen ab. So könnte man dem Wachstumsschub zuschauen. Die Natur hat die Macht über das Paradies übernommen.
Ich liege in der Hängematte, die zwischen Kirsch- und Kakibaum befestigt ist.
Ja, das kann tatsächlich auch ich: die Seele baumeln lassen. Ich schaue dem Naturspektakel zu und in diesen Momenten überlege ich noch nicht, wer die grosse Fläche wie und wann mähen wird.
Verträumt betrachte ich unser Haus. Die Sonne lässt das neue Dach in seinem Silber glänzen, die frisch ausgetauschten weissen Treppenstufen zum oberen Stock strahlen (noch) im ihrem Weiss. Ungewohnt still ist es bei uns geworden.
Da realisiere ich: Heute ist der allererste Tag nach sieben Monaten, an dem wir hier im Haus ganz allein sind.
Die schon lange angekündigte und vereinbarte räumliche Trennung von unserem Mitbewohner Zaza war eine weitere Prüfung unserer Nerven.
Diese hat er, möglicherweise unbewusst, bis zu der höchsten Grenze der Geduld ausgereizt. Im Getriebe des Zusammenlebens kratzte es nicht mehr nur, es gab einen mächtigen Chlapf. Seit einigen Tagen ausgeschalteter Kühlschrank, der sich dank abgetautem Inhalt schon fast selbst in die Bewegung setzte, die unglaubliche Menge Müll, vier Katzen, zwei hungrige Hunde. Das alles blieb dann stillschweigend zurückgelassen. Bis eines Tages Gerolds Nerv der Gutmütigkeit riss. Mit Hilfe unserer Arbeiter schmiss er alles auf den Cucaracha-Traktor und weg damit. Wir staunten nicht schlecht, wie selbstverständlich es war, dass wir alle diese Arbeiten für ihn erledigten. Und dass wir die Seiteneingänge im Garten verriegelt haben, war ein klares Zeichen für den zerbrochenen Krug. Unser Hof glich nämlich dem Roten Platz in Moskau. Immer wieder neue Personen kürzten sich den Weg zu Zazas Baustelle über unser Grundstück ab. Wie eine Schauparade, mit Abstecher in das neue Bad oder auf das Dach. Einfach selbstverständlich, ohne A und O.
Ja klar, da ist was los in stillen Marani, bei den Schweizern ist wieder was zu sehen.
Schlussstrich.
Die hohen Wellen werden sich wieder beruhigen und wir sind überzeugt, dass wir auch einige Gläschen Wein zusammen trinken werden. Die Teilnahme an Gerolds Geburtstagsfest bestätigte meine Vermutung.
Das ganze Umziehen war ein Gemisch von Emotionen, unserem Drang, vorwärts zu machen, übergangenen Vereinbarungen, Missverständnissen und so weiter. Das Leben selbst. Am Schluss waren wir müde und gleichzeitig erleichtert. Alle.
Die Erleichterung spüre ich nun auch bei diesem Gebäude, das sich seine 80-jährigen taubenblauen Wände an der Sonne wärmen lässt. Die weissen Säulen der Balustraden sehen nicht mehr so erschöpft aus. Die Last der alten Dachziegel, einer Menge Balken und Bretter, 30 Kilogramm rostige Nägel und Haken, der über die Jahre angesammelte Abfall unter dem Dach – all das hat das Haus abgelegt. Durch eine abgerissene Trennwand kam Licht in die Räume im Parterre.
So steht es hier mit weit ausgebreiteten Fensterflügeln und ich kann das tiefe Luftholen, das Ein- und Ausatmen spüren.
Ausatmen dürfen teilweise auch wir. Unser Baumeister hat seine Truppe für georgischen Umstände gut im Griff. Langsam hat er unsere Denkweise begriffen. Denke ich.
Wir begreifen hingegen dieses Bedürfnis, mit neuem und modernem Material zu arbeiten. Nur, wir bleiben auf dem Kurs und quälen ihn sichtbar mit unseren «genialen» Ideen. Mit einer gigantischen Leistung, mit einfachen Mitteln haben sie die Silberkrone des Hauses herbeigezaubert. Bei Hitze oder Regen, mühsam und oft bis zur Dunkelheit gehämmert und geschraubt. Umso mehr sind wir erleichtert, dass kein Zwischenfall die Arbeiten überschattet hat. Dementsprechend haben wir diesen Erfolg reichlich mit Wein begossen. Um die 8 Liter pro Abendessen waren es sicher.
Es wärmt das Herz, mitzubekommen, dass sie anstelle des anfänglichen «Das geht nicht» jetzt überlegen, wie es gehen könnte. Wie sie unser Anliegen handwerkstechnisch lösen können. Halleluja!
Nur langsam und vorsichtig bringen wir unsere Mosaik, Schnitzereien, Recycling und weitere erträumte kreative Veränderungen vor. Gaaaaanz vorsichtig. Wir wollen sie nicht vertreiben.
Klar, sind die Macken des Umgangs mit Material und Werkzeug nicht so schnell auszuradieren. Wir bleiben hartnäckig. Und wenn wir dann genug haben, boykottieren wir zusätzliche, unnötige Einkaufstouren, weigern wir uns, weitere 20 Paar Arbeitshandschuhe zu kaufen. Das handschuhfressende Monster in der Garage werden wir nicht mehr füttern. Schaut selbst! Punkt.
Nicht nur die handwerklichen Fähigkeiten unserer «Leute» nutzen wir. Sie alle sind auch Landwirte, Selbstversorger und ihres Landes Kenner. Auf meiner kleiner Farm breitet sich ein Reproduktionsbedürfnis aus. Ich verfalle der Neugier und sammle die gelegten Eier so lange, bis es eine bestimmte Menge gibt, die ich am Abend unter die sitzende Glucke legen soll.
«Ganz vorsichtig, Regina, ganz langsam nimmst die drei Eier, auf welchen sie sitzt, raus, legst dann die angesammelten Eier unter die Henne und das war’s.
Es muss aber fast dunkel sein, dann ist sie blind.»
«Jaja, blind ist sie vielleicht, aber nicht blöd!» Dachte ich bei meinem ersten Versuch die «ganz einfache Sache» umzusetzen.
So schleiche ich in das Gehege. Peche, Tschaikowski und der Rest der Eiercrew
gackern im Stall. Die Glucke sitzt ruhig auf ihrem Hochsitz im Separee. Alles okay.
Leise gebe ich meiner Mutter die Anweisung, den Korb zu halten, still zu sein und keine hastigen Bewegungen zu machen. Ich habe dabei vergessen, dass ihr Gehör nicht mehr so hört, wie es sich gehört.
«Waaaas?!» erhöht sie ihre Stimme, rutscht in ihren übergrossen Gummilatschen nach vorn und steckte den Kopf beinahe in das Bruthäuschen.
Die Glucke erweiterte ihre Hühneraugen und lief an, wie ein Kugelfisch.
«Ok, das wars, die Vorstellung ist beendet» dachte ich.
Doch in der Natur gibt es unzählige Störelemente, so heikel darf so was wie eine Henne nicht sein. In dieser Überzeugung stecke ich meine Hand unter ihren Körper und entfernte die mittlerweile vier Eier, schiebe dann die Angesammelten unter ihren weichen Federmantel. Was ein Ei, das ein Piks. Der Mutterinstinkt ist stark.
Mit rot angelaufener Hand und einer in sich hineinbrummelnden Mama «Nichts da ‘ein Hörgerät wäre nötig.’ Ich höre doch gut. Einfach das, was ich brauche» setze ich mich zu der Runde am Tisch. Augenzwinkernd gebe ich Chwitscha, meinem Berater, das Zeichen – vsjo. Alles – gut.
Nein, vsjo war es nicht. Nach zwei Nächten und einem Moment der Unaufmerksamkeit schleichen Conti und Hera ins Gehege. Mit ihrer Welpenneugier, ihrer Grösse und ihren 23 kg Gewicht sorgen sie für Aufstand im Hühnervolk. Am Abend sass die Glucke am Stängeli im Stall, gemeinsam mit ihren Artgenossinnen und sichtbar angepisst.
Diesmal ohne Schnabelgefecht sammle ich, von mir selbst enttäuscht, die Eier im leeren Kasten ein und verwendete sie bis auf vier Stück für das Frühstück unserer Arbeitscrew.
Ein paar Tage später beichtete ich mein Misserfolg Chwitscha. Seine erste Frage war: «Was hast du mit den Eiern gemacht?» ... Ehm, andere Frage. Habe schnell das Thema gewechselt.
Nun sitzt die Glucke wieder. Ganze 14 Tage lang. Ein zweiter Versuch scheint gelungen zu sein. Mit Demut lege ich ihr die besten Maiskerne vor den Schnabel und am Abend schütze ich sie mit einem Netz über dem Hochsitz.
Gleichzeitig denke ich: Jetzt bleib einfach da sitzen, du Federvieh, sonst klebe ich dich an! Ich hoffe, sie hat ihre Aufgabe und mein Bemühen begriffen und in ein paar Tagen werden wir unseren gemeinsamen Kindern die Welt zeigen.
Es ist überhaupt eine der neuen Aufgaben, seit wir sesshaft geworden sind.
Nur funktionieren will es irgendwie immer noch nicht. Conti und Hera sorgen, gemeinsam mit dem querschnittgelähmten Selapi – Seehund (Strassenhund) für zusätzliche Beschäftigung und Auslagen.
Nicht nur die gestohlenen Eier, auch die Reihe Ente Nr.1, Kaninchen Nr.1, Enten Nr. 2 und 3, welche nun die Fächer im Frigo füllen. Ersatztiere müssen wir besorgen. Nach langer Suche habe ich erfolgreich für unser Enten-Männchen Paulino zwei hübsche Mädel ergattert.
Ich sollte auf die Marktfrau hören, die mich ermahnte, dass eine schöne Schlaufe um die Beine des Vogels nicht reicht.
Später, nachdem sich die zwei hübschen Chinesischen Enten in der Kiste erleichtert und von der Beinverzierung befreit haben, erwachte plötzlich Leben in den kleinen Körpern.
So stand ich da, beide Hände durch das Halten besetzt. Die Ladung der ersten Portion Entenkacke landete in meinem Gesicht, auf den Brillengläsern und auf meiner weissen Sonntagsbluse. Auf die zweite hastige Bewegung war ich vorbereitet, schloss den Mund und kreuzte gleichzeitig die Beine, genau in dem Moment, wie meine Mutter. Ihre Hände waren durch eine Geburtstagstorte blockiert.
So standen wir in der Mitte des Marktes, versuchten, nicht in die Höschen zu pinkeln. Die Kisten abzustellen wäre eine Einladung zum Festmahl für die überall vorhandenen Strassenhunde.
Bei Gerolds Ankunft und seiner Frage, wie er mir helfen könne, konnte ich zwischen dem Schluchzen ausspucken «Brille putzen, bitte».
Wir sind auf dem Markt in Senaki schon bekannt. Nun können die Leute über uns auch eine Geschichte erzählen. Überhaupt tragen wir mit einigen Ereignissen bei, über die man gerne bei diversen Anlässen spricht. Der Sidebike «Zeus» war von Anfang an ein Magnet für neugierige Motor- und Motorrad- «Kenner». Sogar Zaza schaffte mit seiner Lähmung den Einstieg in die Kapsel des Beiwagens. Den Reissverschluss zu und los.
Marani ist ein Kurven- und Kühe-reiches Dorf. Die Tiere beherrschen ihr Werk – kauen und gemütlich herumliegen – hervorragend.
Gerold ist für das Beherrschen seines Dreirads auch weit bekannt. Was ihm immer noch nicht vertraulich ist, ist die georgische Sprache. Zaza schrie nach einigen Manövern durch die Dachlücke in Gerolds Richtung: «Nella, nella!» was in seiner Sprache «langsam» bedeutet. Im Rausch der Fahrt und Freude an Zazas Deutschkenntnissen hat er «schneller, schneller!» verstanden und erfüllte seinen Wunsch. Beschleunigte umso lieber.
Bei der Ankunft sass Zaza bleich, mit dem Telefon am Ohr, bewegungslos und wie angeklebt an seinem Platz. Mit grösster Mühe bekamen wir ihn raus. So fest klemmte er zitternd an seinem Gehstock.
Beim Nachtessen taute er langsam auf. Noch nach zwei Stunden führte durch seinen Körper eine Erschütterung und er schüttelte den Kopf. Ich fragte ihn, mit wem er noch in seiner Angst zu telefonieren schaffte. «Mit dem Pfarrer» war seine Antwort.
«Das war’s mit den gemeinsamen Ausfahrten», dachte ich. Doch weitere Interessenten stehen schon an. Auf dem Weg zum Strassenverkehrsamt, um den Zeus anzumelden, war Zaza auch dabei. Neben mir, in meinem Skoda.
Um ein paar Tage später und 3.5 Flugstunden westlicher – in Tschechien.
Mein kleiner Koffer ist gepackt, die Fenster meiner Mutter strahlen, einige Gläschen Wein mit Freundinen getrunken. Erledigt sind auch alle Behörden- und nötige Gesundheits-Gänge.
Ich habe die Zeit in Litomyšl, meiner Heimatstadt, genossen. Mein «eine Frau sein» aufgefrischt. Eine Rückmeldung auf ein Bild von mir kam aus Georgien: «Sichtbar bist du durch Service und Technische Kontrolle durch. Wir haben dich nicht erkannt.» 😉
Die Haare und Nägel sind gemacht. Über diese zerbreche ich mir immer noch den Kopf, wie ich sie in Marani praktisch einsetzen kann. Die Zecken aus den Hundefellen rauszupicken, wird wahrscheinlich das Einzige bleiben. Die Türen und Fenster sollten die Farbe runterbekommen, doch für das ist dieser Beauty-Furz nicht geeignet. Irgendwann brechen sie selber ab. Es spielt ja keine Rolle mehr. Ich bin dann wieder in unserer Welt.
Die hier ist mir trotz der Vertrautheit fremd geworden. Schon in Prag, auf der Fahrt zum Hauptbahnhof, bekam ich den Frust und die Enttäuschungen zu spüren. Zu spüren war auch der um 50 Prozent! aufgestockte Preis des Taxitarifs. Manche Preise in dem Lebensmittel Bereich wurden sogar verdoppelt.
Jedoch kann ich froh sein, dass ich überhaupt eines bekommen habe.
Auf der Busstation stehend wurde ich vorgestern Zeugin eines weiteren Spiels mit der Geduld des tschechischen Volkes. An diesem Tag fallen 177 Bussfahrten auf den wichtigsten Linien in der Region aus. (Deren Grösse lässt sich mit dem Kanton Bern vergleichen.) Einfach so setzte sich bei einem unerwarteten Wechsel der ÖV-Verantwortlichen hinter das Steuer des lukrativen Bereichs jemand Anderes. Nur hinter die Lenkräder der leerstehenden Busse setzte sich niemand. Personalmangel, heisst es. Die Bedingungen wurden so angepasst, dass einige der Chauffeure nach vielen Jahren den Beruf wechselten.
Wohin zugreifen? In die Menge der arbeitswilligen ukrainischen
Männer und Frauen? Und so irren die oft durch die unbekannte Gegend, fragen die Passagiere, wo sie überhaupt anhalten müssen und wenn sie eine Verspätung haben, halten sie einfach gar nicht an.
Um mich herum versammeln sich die Wartenden, schweigen und suchen in ihren Telefonen nach Möglichkeiten oder sprechen sehr leise ihren Kummer aus. Ich erstarre im Moment, in welchen eine Mutter zu ihrer Tochter sagt:
«Wehe du erzählst es in der Schule, was du hier hörst!»
Ein Schauder überlief mich. Das habe ich schon einmal erlebt.
Komische Stimmung begleitete mich auf dem Weg zurück zur Wohnung meiner Mutter. Ein Beispiel aus vielen, die ich mitbekommen habe. Nach dem Fall folgt ein Zerfall. Irgendwie habe ich die Gebäude der Kurorte in Senaki vor den Augen. Wie nützlich und zugänglich sie für alle waren.
Nicht nur das Materielle, auch das Seelische, das Vertrauen, der Respekt und die Moral bekommen starke Risse im Fundament.
Ich kann mich glücklich schätzen, vor dieser Beklommenheit fliehen zu können. Nach Hause. Nach Marani. Zum Vogelgezwitscher, in meinen Garten, zu unseren zwei schwererziehbaren Fellnasen und zum Gerold mit seinen blauen Haaren – Spuren seines Projektes «das Tor im Rost&Blau».
In der Familie habe ich neue Energie getankt, die Sauberkeit und die Lieblingsgerichte genossen. Nun freue ich mich auf das weitere Tun.
Jedem das Seine. Mir viel Arbeit und vier Wochen Abwesenheit Gerolds.
Die Arbeitscrew steht sicher in den Startlöchern. Sie nutzten die Zeit meiner Reise und kümmerten sich um ihre Felder und Häuser.
Ich wechsle Kleidchen gegen ausgefranzte Shorts und Flipflops.
Bin ich ein Profiteur und picke mir nur die Rosinen aus? frage ich mich jetzt beim Latte-schlürfen im Schlossgarten. Ich kann mir selbst nicht antworten.
Genau vor einem Jahr, am 18. Juni 2021 haben wir das Vertraute in Rubigen verabschiedet. Den Abend mit unseren Kindern und Eli auf dem Kiesplatz vor den Schiffscontainern beim Grillieren zum letzten Mal genossen.
Morgen jährt sich die Reise in das Ungewisse, in Neues und Kompliziertes und gleichzeitig in Spannendes und Unvergessliches.
Ob ich oder wir auf dem Weg bis zum heutigen Tag nur die Rosinen gepickt haben? Wer uns liest, hat sich daraus bestimmt ein Bild gemacht.
Und Bilder entstehen auch verschiedene.
Doch Zufälle gibt es keine.
Morgen, 19. Juni 2022 ...“flüge ich furt über ds grosse meer.... u läbe ds läbe wie sechs ghört... (Plüsch)
Ich hoffe, dass mich meine Flugangst nicht in die Zange bekommt und ich die Reise geniessen kann, dass die Busse fahren und der Zug in Prag ankommt.
Ich muss einfach nach Hause!!!
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